Opferposition?! eine zweitbeste Variante
Newsletter | Juni 2022
Podcast hören
Über Opfer und Opferpositionen zu sprechen, ist heikel und braucht Behutsamkeit. Je nach Kontext können sehr viele sehr unterschiedliche Bedeutungen mitschwingen: Opfer von Katastrophen oder Gewalt bekommen zu recht einen anerkannten Opferstatus. Aber auch wer von Ungerechtigkeit, Einschränkungen oder Mangel betroffen ist, wird sich natürlicherweise als Opfer fühlen.
Hilflosigkeit ist wahrscheinlich das, was man als erstes in einer Opferposition empfindet. Man sieht sich einer überwältigenden Energie ausgesetzt, auf die man keine Antwort hat.
Wenn man zum Opfer wird, was jedem und jeder von uns jederzeit passieren kann, möchte man meistens so schnell wie möglich aus dieser Hilflosigkeit wieder rauskommen. Seltsamerweise gibt es allerdings im Alltag von Organisationen häufig das Phänomen, dass Menschen Opferpositionen geradezu suchen und in ihnen verharren. Und zwar immer wieder und wieder.
Dieses Verharren und Wiederholen kann dauerhaft schaden: Es zermürbt Beziehungen, lähmt und spaltet Teams, und scheint Gemeinschaftliches zu attackieren. Wenn man es merkt, lohnt es sich, schnellstens aktiv zu werden.
Wie lässt sich das anpacken, ohne echte Opfer (z:B. von Mobbing Betroffene) allein zu lassen?
Opfer, Schuldige, Täter
Es gibt eine Art von Miteinander, in der Opferpositionen eine sehr aktive Rolle spielen. Sowohl für diejenigen, die drinstecken und verharren, als auch für die, die von den Wirkungen betroffen sind und nach Lösungen suchen.
Indem ich mich als Opfer bestimmter Umstände und/oder Menschen fühle, gebe ich die Verantwortung für mich selbst weitgehend ab. Wohin? An die, die ich als Täter oder Schuldige sehe. Sie sollen dafür sorgen, dass es mir besser geht.
Typische Sichtweisen in dieser Situation:
- alles ist sinnlos
- ich habe keine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten
- andere sind schuld
- ich muss allen misstrauen
- es ist hoffnungslos
- ich muss Wertschätzung einklagen
- es gibt viele Gründe dafür, dass sich nichts verbessern kann
Hilflosigkeit auf der einen Seite
Dass Opferpositionen sich zu komplexen Verstrickungen auswachsen können, liegt an mehreren Faktoren:
- Wenn ich mich als Opfer sehe, antworte ich tendenziell nicht auf das, was geschieht, sondern auf etwas, das in meinem Inneren ausgelöst wird: Abwehr, Zorn, Hilflosigkeit.
- Ich verliere die Beziehung zu meiner eigenen Wirksamkeit und halte mich für unwirksam.
- Ich unterschätze mich und glaube, nichts tun zu können, mit dem andere etwas anfangen könnten.
- Ich ziehe mich zurück aus dem Feld und bin allein. Allerdings höre ich gern Bestätigung, die mir rechtgibt.
- Ich verhalte mich scheinbar passiv, dominiere aber mit meinem Verhalten alles – und würde das immer abstreiten.
Wenn ich es ausdrücken könnte, würde ich meinen inneren Offline-Modus so beschreiben: keine Verbundenheit, keine Wirksamkeit, keine eigenen Fähigkeiten. Nichts und niemand kann mir helfen.
Hilflosigkeit auf der anderen Seite
Auch die andere Seite fühlt sich schnell hilflos gegenüber der Blockadehaltung des Opfers. Die Signale sind verwirrend:
Wieso macht diese Person nicht einfach das, was ich ihr sage und was ihr Job ist?
Warum beklagt sie sich ständig über irgendwas?
Sie akzeptiert keine meiner Erklärungen, macht aber keine eigenen Vorschläge.
Ich versuche es mit gutem Zureden, aber das hilft nicht.
Was denn sonst noch, ich habe wirklich genug anderes zu tun!
Wer hat denn hier das Sagen, die oder ich?!
Soll ich mich schuldig fühlen oder was? Ich bin doch kein Scheusal! Mir reicht’s!
Auch hier wird schließlich die eigene Wirksamkeit in Frage gestellt. Beide Seiten sehen sich am Ende ihrer Möglichkeiten. Es gibt auf den ersten Blick keine Resonanz. Es ist vertrackt: Sie reden (und denken) aneinander vorbei. Und doch sind sie aufs Engste miteinander verstrickt.
Seltsam, oder?
Worum geht es wirklich?
Wenn so viel Hilflosigkeit im Feld ist, muss man für Sicherheit sorgen, die zu Dialog und wirklichem Austausch einlädt und auch überraschende Ergebnisse ermöglichen könnte. Um zu dieser Sicherheit zu kommen, verzichtet man am besten darauf, schon vorher alles wissen, erklären und begründen zu können. Das ist für Führungskräfte vielleicht nicht das Natürlichste, aber wenn es gelingt, zeigt es einen hohen Rang und gute Gastgeberschaft. Die ist der Schlüssel, um aus dem vertrackten Opfer-Ding wieder rauszufinden. Und das zu entdecken, was dem Zusammenarbeiten aller Beteiligten gut tut.
Wie legt man los?
Als Führungsperson lade ich die andere Person zu einem Gespräch ein. Ich verwende Sorgfalt darauf,
- dass die Einladung auch einladend wirken kann,
- dass Raum und Zeit passen,
- dass das Setting angemessen und für uns beide möglichst angenehm ist.
Es ist wichtig, mich auf dieses Gespräch innerlich vorzubereiten: Was geht gerade in meinem Inneren vor? Ist mir klar, dass es als erstes um (seelische) Sicherheit für alle geht?
Im Austausch und Gespräch muss klar werden: Es gibt die Organisation/das Team und deren operative Aufgaben und Verantwortungen. Dafür bin ich als Führungsperson verantwortlich, und alle anderen, die verantwortlich Aufgaben übernommen haben, in ihren Bereichen ebenso. Die Organisation/ das Team arbeitet zum Wohl der Kunden, der Mitarbeitenden und für die Ergebnisse, die man erreichen will.
Und dann gibt es die Menschen in der Organisation/dem Team, von denen jede/r für den eigenen privaten Bereich die volle Verantwortung hat. Für diesen Bereich ist man Gastgeber*in – gerade auch im Dialog mit anderen, und auch, wenn man mit dem Arbeitgeber über eigene private Dinge spricht.
Und natürlich ist es so, dass aus dem Feld von Organisation oder Team einiges auf den Privatbereich einwirkt und umgekehrt aus dem Privatbereich in das Feld von Organisation oder Team. Das ist nicht nur in Ordnung, sondern kann sogar wertvoll sein. Gerade dann, wenn es darum geht, eine Opferposition aufzulösen.
Aus der Opferposition zu Frieden und neuer Energie
Das Gespräch zwischen Führungsperson und Mitarbeiter*in wird gut, wenn klar wird, dass die Opferposition etwas zum Ausdruck bringt. Da gibt es Klagen und Hoffnungslosigkeit – aber auch die Frage, welche Sehnsucht in der Opferposition zum Ausdruck kommt: Was würde beiden Gesprächspartner*innen gut gefallen? Was wäre angenehm? Im Hinblick auf Organisation oder Team, auf die Kunden, auf die eigene Leistungsfähigkeit? Wie ließen sich neue Möglichkeiten entdecken, um etwas in Gang zu setzen? Woran wird man merken, dass sich was verändert hat? Gibt es Leichtigkeit? Ergebnisse, die wie gezaubert aussehen?
Und zuletzt: wenn es schwierig wird, ist das vielleicht ein Signal, dass wir uns gemeinsam Zeit nehmen sollten, um herauszufinden, was sich jetzt entwickeln und entfalten will.
Das erste bleibende Ergebnis: wir können uns aufeinander verlassen.